Ändert KI die Regeln der Geldanlage?
Dazu möchte ich Ihnen heute einen Artikel vorstellen, den David Booth in der Financial Times veröffentlicht hat. Nach heutigem Stand der Wissenschaft ist es nicht ratsam, seine Geldanlage täglich aufgrund der neusten Prognosen für die Zukunft anzupassen. Erfolgversprechend ist hingegen, stets breit investiert zu sein und jedem Kunden individuell zu dessen Anlageziel den passenden Anlageklassenmix zusammenzustellen, der frei von Prognosen, statistisch gesehen, die beste Erfolgswahrscheinlichkeit besitzt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Bedeutung und wachsende Beliebtheit von Indexfonds, prognosefreien Anlageklassenfonds und ETFs. David Booth ist einer der Pioniere dieser Fonds und Gründer von Dimensional Fund Advisors. Dies ist sein Kommentar zur aktuellen Debatte um künstliche Intelligenz (KI):
Warum die Weisheit der Märkte künstlicher Intelligenz überlegen ist.
(von David Booth)
„Kann künstliche KI bei der Aktienauswahl helfen? Oder konkreter: Können Anleger mithilfe von KI den „richtigen“ Preis einer Aktie oder einer Anleihe ermitteln? Wenn man die aktuellen Fortschritte in der Verarbeitung immer größerer Datenmengen betrachtet, dann vermute ich, dass viele Menschen diese Frage mit „Ja“ beantworten würden.
Allerdings glaube ich, dass meine KI besser ist als all die anderen KI-Systeme, die es gibt. Meine KI ist der Markt.
Schauen wir uns doch mal den Kurs einer beliebigen Aktie an. Warum wird diese Aktie zu genau diesem Kurs gehandelt? Weil aktuell eine gleichgroße Zahl von Käufern und Verkäufern glaubt, dass es sich lohnt, die Aktie genau zu diesem Preis zu kaufen oder zu verkaufen. Sie treffen diese Entscheidung auf der Grundlage aller öffentlichen und nicht öffentlichen Informationen, die ihnen zu diesem Zeitpunkt vorliegen. Der Markt ist die größte Informationsverarbeitungsmaschine der Welt, die für jede an den öffentlichen Märkten gehandelte Aktie oder Anleihe einen Preis festlegt.
Die Preisfindung findet in einem Umfeld statt, in dem niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. So gesehen sind die Märkte ein riesiges Modell, das die zukünftige Wertentwicklung von Aktien und Anleihen bestmöglich prognostiziert und diese Prognose laufend anpasst.
Trotz aller Verheißungen durch künstliche Intelligenz akzeptiere ich lieber Marktpreise als Kurse, die von einem Algorithmus vorgegeben werden. Große Sprachmodelle – die künstliche Intelligenz hinter Chatbots wie ChatGPT – sollen Texte verstehen und generieren, die so klingen, als wären sie von Menschen geschrieben. Als Prognosemodell für zukünftige Ergebnisse sind sie nicht gedacht.
Zwar können sie Szenarien auf Grundlage erlernter Muster erstellen; der Umgang mit unbekannten Faktoren oder Veränderungen in der realen Welt, die außerhalb ihrer Trainingsdaten liegen, fällt ihnen jedoch schwer. In diesem Sinne sind sie tatsächlich „künstlich“, wohingegen die Märkte aus echter, menschlicher Intelligenz und den Entscheidungen, Urteilen und Prognosen von vielen Millionen Marktteilnehmern bestehen.2021 ist eine Ära zu Ende gegangen, in der die Bilanzen der Volkswirtschaften global schneller gewachsen sind als das Wirtschaftswachstum. Die Verschuldung hat kontinuierlich zugenommen und ebenso die Vermögenswerte, ohne dass der wirtschaftliche Output damit Schritt halten konnte. Das viele Geld ist kaum in produktive Investitionen geflossen, sondern in bestehende Vermögenswerte, was deren Preise nach oben getrieben hat, und die Ungleichheit vergrößert. Angesichts des Zinsschocks und der globalen Spannungen scheint dieses Zeitalter der lockeren Geldpolitik und des schier endlosen Vermögenswachstums vorbei. McKinsey erarbeitet vier mögliche Szenarien für die normale Fortentwicklung der Weltwirtschaft bis 2030. Extremszenarien, wie ein dritter Weltkrieg oder Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems werden nicht betrachtet, weil sie nicht modellierbar sind und eher unwahrscheinlich.
Natürlich können künstliche Intelligenz und Handelsalgorithmen bei der Ausführung von Transaktionen helfen. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass KI in absehbarer Zeit die Art und Weise, wie die Menschen Aktienkurse beurteilen, grundlegend beeinflussen wird.
Der Markt ist äußerst komplex – so komplex, dass aufgrund der zahlreichen gleichzeitigen Einflüsse niemand genau weiß, wie sich eine bestimmte Information auf den Preis eines Wertpapiers auswirkt. Aber der Markt sorgt dafür, dass der Kurs einer Aktie oder Anleihe deren Wert so genau wie irgend möglich abbildet. Er ist kostenlos und für alle zugänglich – besser geht es eigentlich nicht.
Das ist nicht nur meine Meinung; für die Effizienz der Märkte gibt es zahlreiche Belege. Tatsächlich handelt es sich um eine Theorie, die bereits 50 Jahre alt ist und die sich in jedem Jahr mehr bestätigt. Googeln Sie mal „Markteffizienzhypothese“. Oder noch besser: Bitten Sie ChatGPT, sie zu erklären.
Sie glauben mir immer noch nicht? Dann lassen Sie es mich mit einer anderen Frage versuchen: Glauben Sie, Sie finden einen Manager, der mithilfe von künstlicher Intelligenz regelmäßig den Markt schlagen kann? Nach Abzug der Gebühren wahrscheinlich nicht. Wenn ein solcher Manager tatsächlich eine fantastische KI hätte, die Aktienkurse besser vorhersagen kann als der Markt – warum sollte er diese Informationen mit Ihnen teilen?
Was bedeutet das für Anleger? Sie können gute Ergebnisse erzielen, ohne sich über diese Dinge Gedanken machen zu müssen. Schaut man sich die Daten der letzten knapp einhundert Jahre an, dann hat der US-Aktienmarkt jährlich eine Rendite von knapp zehn Prozent abgeworfen und damit die Inflation um sieben Prozent übertroffen.[1] Das war vor und nach dem Aufkommen von Computern und der Entstehung des Internets so. Selbst vor und nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht anders. Ich gehe davon aus, dass es auch im Zeitalter der KI so bleiben wird. Denn unsere KI, der Markt, ist eine Schwarmintelligenz, die künstliche Intelligenz miteinschließt und diese übertrifft.
Ich will klar sagen: Ich begrüße die Innovation, die wir womöglich gerade erleben. In den vergangenen 50 Jahren meiner beruflichen Laufbahn konnte ich immer wieder beobachten, wie Menschen technologische Fortschritte nutzen, um ihr Unternehmen zu verbessern und neue Unternehmen aufzubauen. Wenn Sie in den gesamten Markt investieren, können Sie an der Entwicklung aller börsennotierten Unternehmen teilhaben.
Und für den Fall, dass ich Sie immer noch nicht überzeugen konnte, habe ich ChatGPT gefragt: „Sollte ich dem Marktpreismechanismus vertrauen oder einem auf künstlicher Intelligenz basierenden Modell, das Fehlbewertungen von Aktien und Anleihen zu identifizieren versucht?“
An dem Tag hat ChatGPT mir Folgendes geantwortet: „Im Allgemeinen ist es sicherer, sich auf den Marktpreismechanismus zu verlassen als auf ein KI-Modell, das Fehlbewertungen von Aktien und Anleihen zu erkennen versucht. Der Marktpreismechanismus beruht auf den Entscheidungen aller Marktteilnehmer und preist alle verfügbaren Informationen in die Wertpapierkurse ein. Für einzelne Anleger oder ein KI-Modell ist es daher schwierig, den Markt durch die Identifizierung von Fehlbewertungen dauerhaft zu übertreffen.“
Wenn Sie mir also nicht vertrauen, vertrauen Sie der KI, die sagt, dass Sie der KI nicht mehr vertrauen sollen als dem Markt.“
(Dieser Artikel ist ursprünglich in der Financial Times erschienen.)
[1] In US-Dollar. Jährliche Rendite des S&P 500 Index, 1926 bis 2021. S&P-Daten © 2023 S&P Dow Jones Indices LLC, eine Tochtergesellschaft von S&P Global. Alle Rechte vorbehalten. Anleger können nicht direkt in Indizes investieren; die Wertentwicklung eines Index zeigt daher nicht die mit der Verwaltung eines tatsächlichen Portfolios verbundenen Kosten an.
Christian Dagg
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